Mit dem Schwund der Biodiversität stehen mittlerweile viele Tiere und Pflanzen unter ständiger Beobachtung. Leider reichen die Daten nicht sehr weit zurück in die Vergangenheit. Ökologen behaupten, dass der Rückgang der Biodiversität durch die moderne Zivilisation unterschätzt wird und plädieren dafür, zusätzlich auch andere Informationsquellen wie Sammlungen und die Paläobiologie zu nutzen.
Zahlreiche Natur-Enthusiasten arbeiten schon lange an der Inventarisierung der biologischen Vielfalt mit. Und auch Universitäten, Forschungsinstitute und Behörden erfassen in umfangreichen Monitoring-Programmen den Zustand der Tier- und Pflanzenwelt. Das Ziel der Mühen ist klar: Es geht darum, Veränderungen zu dokumentieren und den Schwund der Biodiversität wenn möglich aufzuhalten. Welche Arten kommen wo vor? Nehmen die Bestände zu oder ab? Welche Tiere und Pflanzen stecken in ernsthaften Schwierigkeiten? Und haben die zu ihrem Schutz begonnenen Massnahmen auch tatsächlich den gewünschten Erfolg? Solche Fragen kann man nur beantworten, wenn man gute Monitoring-Daten hat.
Bertachtung von verschiedenen Facetten
Mit modernen Methoden können Ökologen aus solchen Informationen ein recht gutes Bild von der biologischen Vielfalt und ihrem Wandel gewinnen. Dazu betrachten sie verschiedene Facetten der Biodiversität, wie etwa die Grösse von Populationen, die Eigenschaften von Arten oder die Funktionen der Ökosysteme und analysieren deren Veränderungen. Um dabei zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen, brauchen sie allerdings genügend Daten über lange Zeiträume. Realistisch beziffern können sie den Verlust der Vielfalt und die Rolle des Menschen schliesslich nur, wenn sie verschiedene Epochen vergleichen: Wie sah die Welt aus, bevor Homo sapiens sie komplett umgekrempelt hat? Und was hat sich seither verändert?
Nachhaltige Veränderungen
Die Studie stellt nun die Frage, ob die meist noch recht neuen Monitoring-Programme dafür genügend Informationen liefern können. Schliesslich setzt der Mensch die moderne Tier- und Pflanzenwelt bereits seit Jahrhunderten unter Druck und verändert sie nachhaltig. Dagegen haben Veränderungen in der Gesellschaft, wie mehr Freizeit, ein höheres Umweltbewusstsein und bessere Bildung erst relativ spät dazu geführt, dass Biodiversitätsdaten systematisch gesammelt wurden. Können die vorhandenen Informationen also überhaupt verraten, welche Folgen die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert oder die massiven Veränderungen in der Landwirtschaft seit dem 18. Jahrhundert für die Biodiversität hatten? Um das besser einschätzen zu können, haben die Forscher den Zeithorizont von europäischen Monitoring-Programmen nun zum ersten Mal intensiv unter die Lupe genommen. Die Online-Datenbank DaEuMon verrät zum Beispiel, welche Arten in welchem Land und mit welchen Methoden erfasst wurden und werden. Zusätzlich haben sie Informationen aus anderen öffentlichen Datenbanken analysiert.
Forschungen aus früheren Jahrhunderten
Demnach haben Jäger, Hobby-Naturkundler und andere Interessierte schon vor Jahrhunderten damit begonnen, über die Vielfalt des Lebens Buch zu führen. So sind die Forscher auf Vogel- und Pflanzenstudien aus dem Jahr 1634 gestossen, die Informationen über Säugetiere reichen sogar noch fast hundert Jahre weiter zurück. Das waren damals allerdings keine systematischen Erfassungen. Man nahm eher willkürlich Informationen über bestimmte Arten zu Protokoll und beschränkte sich meist auch auf relativ kleine Gebiete und bestimmte Regionen. Bessere Informationen gibt es erst aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Denn für etwa 88 Prozent der europäischen Monitoring-Programme ist der Startschuss erst nach 1950 gefallen. Gut die Hälfte hat ihre Arbeit sogar erst Anfang der 1990er Jahre aufgenommen, als die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der EU die Mitgliedsstaaten zu solchen Erhebungen verpflichtete. Zu der Zeit aber standen die Ökosysteme Europas bereits seit langem massiv unter Druck. Das zeigt die Geschichte der menschlichen Einflüsse, die das Forscher-Team für seine Studie ebenfalls analysiert und mit dem Zeithorizont der Monitoring-Programme verglichen hat. Ob es um das Bevölkerungswachstum geht oder den Ausstoss von Treibhaus-Gasen, um Überdüngung oder Schadstoffbelastung: All diese Probleme haben schon lange vor dem Monitoring-Boom angefangen.
Weitreichende Konsequenzen
Für sämtliche Vergleiche fehlt also die richtige Basislinie. Wer sich zum Beispiel für den Rückgang der Insektenvielfalt interessiert, kann zwar ein paar Jahrzehnte zurück in die Vergangenheit schauen. Möglicherweise sieht er dann aber nur einen kleinen Teil des tatsächlichen Verlustes. Von all den Arten, die schon die industrielle Revolution oder die Umwälzungen in der Landwirtschaft im 18. Jahrhundert nicht verkraftet haben, erfährt er wenig bis nichts. Das heisst, dass wir den Einfluss des Menschen wahrscheinlich massiv unterschätzen. Das aber hat weitreichende Konsequenzen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, Ziele für den Naturschutz festzulegen. So leuchtet es ja problemlos ein, wenn man alle für ein Gebiet typischen Vogel- oder Reptilienarten erhalten will. Fragt sich nur, was in dem Fall «alle» sind. Die Artenliste vom ersten Monitoring ist sehr wahrscheinlich nicht vollständig – selbst wenn sie noch aus den 1950er Jahren stammen sollte. Denn etliche Bewohner der Region hatten sich damals wohl schon längst verabschiedet.
Zusätzliche Informationsquellen
Die Forscher plädieren daher dafür, zusätzlich auch andere Informationsquellen anzuzapfen, um weiter zurück in die Vergangenheit schauen zu können. Chancen sehen sie zum einen in einer systematischen Auswertung der umfangreichen Sammlungen, die Museen in aller Welt zusammengetragen haben. Zum anderen kann auch die Paläobiologie sehr nützliche Informationen liefern. Dieser Wissenschaftszweig versucht, längst verschwundene Landschaften und Ökosysteme zu rekonstruieren. Zum Beispiel, indem Forscher tief in den Untergrund von Seen bohren und die so zutage geförderten Sedimentkerne auf uralte Pollen, Samen, und Mikroorganismen untersuchen. Auch aus Fossilien und alter DNA lässt sich mehr über die biologische Vielfalt vergangener Zeiten erfahren. Man kann mit diesen Methoden Jahrtausende zurück schauen. Man würde sich aber schon mit 250 Jahren begnügen, um die moderne Tier- und Pflanzenwelt zu verstehen.
Redaktion