Caritas Aargau wurde 1972 als Fachstelle der Römisch-Katholischen Landeskirche gegründet. Dieses Jahr feiert die wichtige soziale Organisation ihr 50-Jahr-Jubiläum. Geschäftsleiterin Fabienne Notter spricht über die aktuellen Herausforderungen und Schwerpunkte von Caritas Aargau.
Caritas Aargau feiert dieses Jahr ihr 50-Jahr-Jubiläum. Was ist das Erfolgsrezept von Caritas Aargau?
Fabienne Notter: Wir haben eine gemeinsame Vision, die Armut zu bekämpfen und uns für eine solidarische Gesellschaft zu engagieren. Es ist uns wichtig, möglichst niederschwellige Angebote zu haben und uns stets an den Bedürfnissen der Menschen zu orientieren. Zudem setzen wir uns auf sozialpolitischer Ebene ein, um die Stimme zu erheben für Menschen, die keine Lobby haben, und um die Rahmenbedingungen für Betroffene zu verbessern. Nicht zuletzt haben wir hochmotivierte Mitarbeitende, denen es wichtig ist, sinnvolle Arbeit auszurichten und sozial benachteiligten Menschen und Armutsbetroffenen Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.
Was sind die wichtigsten Meilensteine respektive wie hat sich die Organisation im Aargau in den letzten 50 Jahren entwickelt?
Caritas Aargau startete 1972 als Einmannstelle mit Hauptaufgaben in Ferienlager für Menschen mit Behinderung, Flüchtlingsarbeit und in der Sozialberatung. Letztere zwei sind bis heute wichtiger Bestandteil geblieben. 1983 wurde der erste Secondhand eröffnet – heute sind es deren drei. Es folgten Rechtsberatung, Engagement in der Aidshilfe, Angebote gegen Arbeitslosigkeit und viele Freiwilligenprojekte. 2006 nahm der erste von heute acht Kirchlichen Regionalen Sozialdiensten den Betrieb auf, inklusive Beratung in sieben Sprachen. 2022 stieg Caritas Aargau in die Begleitung von Gastfamilien ukrainischer Flüchtlinge und in die Betreuung und Beratung von vorläufig Aufgenommenen (VA) Ausländer/innen und ukrainischen Flüchtlingen in den Gemeinden ein. Caritas Aargau hat immer wieder neue Angebote und Stellen mitentwickelt. Beispiele sind verschiedene Arbeitsintegrations- und Beschäftigungsprogramme, Fachstelle Schuldenberatung, Anlaufstelle Integration, Benevol, Sozialrat, Netzwerk Sozialer Aargau, etc. Dabei war und ist es Caritas Aargau immer ein Anliegen, mit Partnerorganisationen zusammenzuarbeiten. Gemeinsam sind wir stark!
Wie erleben Sie die Organisation, Ihre Mitarbeitenden sowie das Miteinander im Kanton?
Caritas Aargau ist eine dynamische Organisation, die dank ihren engagierten Mitarbeitenden stets bestrebt ist, mit ihren Projekten und Angeboten eine Antwort auf Krisen zu geben und auch präventiv zu wirken. Dabei pflegen wir die Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen und vertreten im Netzwerk Sozialer Aargau gemeinsam unsere Meinung. Auch mit dem Kanton sind wir in aktivem Austausch und führen einen konstruktiv kritischen Dialog. Als Dienstleistungsbetrieb dürfen wir diverse Mandate im Auftrag von Kanton und Gemeinden ausüben. Das hindert uns nicht daran, dass wir uns auf sozialpolitischer Ebene konstruktiv kritisch äussern.
Sie engagieren sich für einen solidarischen Aargau in einer politisch dynamischen Zeit. Was ist dabei die grösste Herausforderung?
Neue Krisen wie zum Beispiel die Covid-Pandemie oder die Ukraine-Krise fordern immer wieder schnelles Handeln, politische Prozesse sind da manchmal zu schwerfällig. Trotzdem erlebe ich die Zusammenarbeit im Kanton als konstruktiv, man sucht nach Lösungen. Caritas Aargau springt dort ein, wo Menschen durch die Maschen fallen. Uns ist es aber wichtig, dass wir uns auch sozialpolitisch engagieren, damit längerfristig die Rahmenbedingungen ändern. Es ist nicht die Lösung, dass Hilfswerke wie Caritas Schwächen im System ausgleichen.
Wie viele Menschen leben im Aargau am Existenzminimum?
Leider gibt es keine aktuellen Zahlen, weil es derzeit im Kanton Aargau kein Armutsmonitoring gibt. Die letzten Zahlen stammen vom Bundesamt für Statistik, welche im Jahr 2020 Zahlen von 2018 veröffentlicht hat. Die Armutsquote lag im Kanton Aargau im Jahr 2018 bei 9,3 Prozent, wesentlich höher als der Schweizer Durchschnitt, der bei 7,9 Prozent lag. Umgekehrt liegt die Sozialhilfequote im Aargau stets tiefer als im gesamtschweizerischen Durchschnitt (2020 Kanton Aargau: 2,0 Prozent / Durschnitt 3,2 Prozent). Das zeigt, dass die Nichtbezugsquote im Kanton Aargau hoch ist, was mit der tendenziell repressiven Politik zu tun hat. Die Menschen im Aargau schämen sich, Sozialhilfe zu beziehen, weil sie oft stigmatisiert werden. Das zeigen auch diverse Vorstösse im Grossen Rat, welche einen Abbau in der Sozialhilfe fordern und zur Stigmatisierung von Sozialhilfebeziehenden beitragen. Momentan werden unsere Haushaltsbudgets gerade arg strapaziert durch die steigenden Energiekosten, Inflation oder den neuen, höheren Krankenkassenprämien.
Wie spüren Sie das bei Caritas, gibt es mehr Menschen, welche akute Existenzschwierigkeiten haben und die Unterstützung von Caritas benötigen?
Im Moment haben wir erst vereinzelt Menschen, die bei uns Hilfe holen wegen hohen Nebenkostenabrechnungen. Es ist aber absehbar, dass sich die Situation bis im Frühling zuspitzen wird. Wir erwarten einen grossen Anstieg an Unterstützungsanfragen im ersten Quartal 2023. Wir spüren allerdings jetzt schon in unseren Beratungen, dass die Menschen in Sorge sind und Angst haben vor dem, was auf sie zukommt.
Wie erleben Sie die Menschen, die Sie aktiv unterstützen?
Wir unterstützen Menschen mit verschiedenen Angeboten, sei es durch Beratung oder Projekte. Die Menschen sind meistens sehr dankbar und sind froh, dass sie ernstgenommen und mit Respekt behandelt werden. In der freiwilligen niederschwelligen Beratung stellen wir fest, dass die Klient/innen meist sehr lange warten, bis sie effektiv Hilfe holen, weil sie sich schämen. Oft kommen sie erst, wenn sie den Überblick über ihre vielen «Baustellen» verloren haben und stark mehrfachbelastet sind. Dann hilft es nur schon, dass jemand zuhört und dabei unterstützt, Ordnung zu schaffen, zu priorisieren und die nächsten Schritte aufzugleisen. Auch wenn es letztendlich der Schritt sein kann, sich bei der Sozialhilfe anzumelden.
Wie fordert die Ukraine-Krise Caritas Aargau?
Mit der Einführung des S-Status waren zu Beginn Prozesse und Verantwortungen für Kanton und Gemeinden nicht klar, und auch die schiere Menge von Schutzsuchenden war für alle eine Herausforderung. So kamen viele Schutzsuchende zu uns und baten um Nothilfe. Caritas unterstützte zu Beginn mit Kleidern aus den Secondhand-Läden und mit Lebensmittelgutscheinen. In den Kirchlichen Regionalen Sozialdiensten bieten wir seit Anbeginn Beratung für Schutzsuchende, und in verschiedenen Integrationsprojekten nehmen unterdessen ebenfalls Schutzsuchende teil (z. B. in Deutsch-Treffpunkten, Mentoring-Projekten, etc.).
Vom Kanton Aargau haben wir den Auftrag erhalten, Gastfamilien zu begleiten, welche Schutzsuchende bei sich aufgenommen haben, und mit 13 Gemeinden haben wir eine Leistungsvereinbarung zur Betreuung und Beratung von VA-Ausländer/innen sowie von Schutzsuchenden im Auftrag der Gemeinden. Es kommen immer mehr Gemeinden dazu, die unsere Angebote nutzen möchten, so sind wir als Betrieb herausgefordert, die vielen Aufgaben bewältigen zu können. Eine Herausforderung ist auch die Ungleichbehandlung der verschiedenen Flüchtlinge aufgrund des S-Status.
Caritas befindet sich im Moment in einem starken Wachstum. Wo benötigen Sie mehr Kapazitäten und warum?
Hauptsächlich sind wir daran, mehr Sozialarbeiter/innen zu rekrutieren. Mit dem neuen Mandat in den Gemeinden zur Betreuung und Begleitung von VA-Ausländer/innen und Schutzsuchenden aus der Ukraine haben wir im Juli operativ gestartet. Das Team besteht bereits aus acht Mitarbeitenden, und wir sind weiter dabei, Mitarbeitende anzustellen. Auch in der Flüchtlingsberatung (Beratung von anerkannten Flüchtlingen) steigen die Klientenzahlen, hier suchen wir ebenfalls Sozialarbeiter/innen. Für die Begleitung von Gastfamilien haben wir ein Team rekrutiert von Mitarbeiter/innen, welche mehrheitlich ukrainisch oder russisch sprechen.
Ihr Ziel ist eine Schweiz ohne Armut. Wie realistisch ist dies?
Eine Schweiz ohne Armut ist möglich. Dazu braucht es aber eine gesamtschweizerische Armutsstrategie; Bund, Kantone und Gemeinden müssen ihre gemeinsamen Bemühungen in der Armutsprävention und Bekämpfung deutlich verstärken. Die Schweiz ist wohlhabend genug, um diejenigen Menschen zu unterstützen, die es nicht in eigener Kraft schaffen, ein würdiges Leben zu leben.
Wichtig ist dabei, dass Menschen in Not nicht stigmatisieret werden. Sie sollen Unterstützung in Anspruch nehmen, die sie zugute haben. Wir müssen die Nichtbezugsquote reduzieren, um zu verhindern, dass Bedürftige unter dem Existenzminimum leben.
Was wünschen Sie sich zum 50. Geburtstag von Caritas Aargau?
Ich wünsche mir, dass es Hilfswerke wie Caritas nicht mehr braucht! So lange es uns aber braucht, möchten wir eine gesunde Organisation sein, die mit Kraft, Effizienz und viel positiver Energie Wirkung in der Armutsbekämpfung erzielen kann. Wir möchten für sozial benachteiligte Menschen und für Armutsbetroffene da sein können und ihnen helfen, eine Verbesserung in ihrem Alltag zu erreichen. Und wir möchten sozialpolitisch wirken, um Rahmenbedingungen für Betroffene zu verbessern.
Was sind die nächsten Projekte, die Caritas Aargau realisieren wird?
Grundsätzlich ist Caritas da, wo es brennt. Wir springen ein, wenn Menschen durch die Maschen fallen. Aufgrund unserer niederschwelligen Arbeit merken wir schnell, wo Bedarf ist. Wir prüfen immer wieder, ob es etwas Neues braucht. Derzeit sind wir gefordert, die aktuellen Projekte und Angebote weiter aufzubauen und zu konsolidieren, um insbesondere die Flüchtlingskrise bewältigen zu können. Neben den ukrainischen Geflüchteten sind auch Millionen von anderen Flüchtlingen auf dem Weg nach Europa – und werden Unterstützung brauchen.
Interview: Corinne Remund